10.09.2024

Keine weitere Kriminalisierung von Flucht und Solidarität

Neue EU-Richtlinie muss flüchtende Menschen und humanitäre Hilfe schützen

Gemeinsam mit 15 weiteren Organisationen, darunter Sea Watch, Amnesty International und Pro Asyl, veröffentlichte der AWO Bundesverband heute einen Apell an Bundesministerin Nancy Faeser.

Die Unterzeichnenden sehen die kommende Überarbeitung der EU-Richtlinie als Chance, dem Trend der Kriminalisierung von geflüchteten Menschen, sowie humanitären Organisationen entgegenzuwirken und endlich wieder menschenrechtliche und rechtsstaatliche Prinzipien in den Mittelpunkt zu stellen

Gemeinsamer Appell

Sehr geehrte Bundesministerin Nancy Faeser,

die EU steht in diesen Jahren an einem Scheideweg. Grundlegende rechtsstaatliche und menschenrechtliche Prinzipien werden zunehmend infrage gestellt und offen angegriffen, oft von Regierungen selbst. Menschen, die Schutz und Sicherheit suchen, sind dabei im Fadenkreuz staatlicher Verfolgung. Das hat ganz konkrete Folgen: Prozesse etwa in Griechenland oder Italien gegen Personen, die Flüchtlingsboote steuern, zeichnen sich durch Verfahrensverletzungen und mangelnde Beweisführung aus.¹ Doch nicht nur Schutzsuchende selbst, auch ihre Unterstützer*innen werden in vielen Mitgliedstaaten kriminalisiert.² Selbst wenn es letztlich zu Freisprüchen kommt, wird der Ruf von Organisationen durch die staatlichen Attacken geschädigt. Die oft jahrelangen Verfahren bedeuten außerdem eine enorme finanzielle und psychische Belastung für die Beschuldigten. Die EU-Richtlinie zur Beihilfe illegaler Einreise ist ein häufig verwendetes Instrument, um Flüchtende oder Unterstützende strafrechtlich zu verfolgen.

In den letzten Jahren gab es deswegen immer wieder Forderungen aus der Wissenschaft, von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Expert*innen, nach einer Überarbeitung der Richtlinie, um diesem Kriminalisierungstrend ein Ende zu setzen. Diesem Ruf ist die Europäische Kommission durch den von ihr 2023 vorgelegten Vorschlag zur Überarbeitung der Richtlinie nun gefolgt. Um Schutzsuchenden und Menschenrechtsverteidiger*innen endlich Rechtssicherheit zu garantieren, muss jedoch dringend nachgebessert werden.

Für uns ist klar: Eine überarbeitete Richtlinie muss vollumfänglich in Einklang mit dem UN-Schmuggelprotokoll, sowie internationalem Menschenrechten und dem Flüchtlingsrecht stehen. Humanitäre Hilfe und Unterstützung sind Ausdruck von Menschlichkeit und einer lebendigen Zivilgesellschaft und dürften nicht kriminalisiert werden. Wir appellieren deshalb an die Bundesregierung, sich bei den kommenden Verhandlungen für folgende Punkte einzusetzen:

  1. Klare Definition des Straftatbestands der Beihilfe zur illegalen Einreise unter Voraussetzung einer ungerechtfertigten finanziellen oder materiellen Bereicherung: Nach dem UN-Schmuggelprotokoll wird eine Handlung nur dann als Schmuggel angesehen und strafbar, wenn damit beabsichtigt wird, einen finanziellen oder materiellen Vorteil zu erzielen. Der Straftatbestand in der Richtlinie muss dieser Definition gerecht werden. Darüber hinaus sollte klargestellt sein, dass eine Dienstleistung gegen angemessene Bezahlung (wie eine Taxifahrt über die Grenze oder eine Beherbergung im Hotel in Grenznähe) vom Straftatbestand nicht erfasst ist.
  2. Eine ausdrückliche, umfassende und verbindliche Ausnahmeformulierung für humanitäre Hilfe und Maßnahmen, die dem Schutz von Menschenrechten dienen: Personen und Organisationen, die an Land oder auf See humanitäre Hilfe leiste oder Menschenrechtsverletzungen dokumentieren, müssen in allen EU Mitgliedstaaten effektiv vor Kriminalisierung geschützt sein.
  3. Entkriminalisierung von Schutzsuchenden und ihren Familienangehörigen: Menschen auf der Flucht sind diejenigen, welche durch ihre Zwangslage Opfer von Schleuserei werden. Der Vorwurf des Schmuggels darf nicht dazu dienen, fliehende Menschen oder deren Familienangehörige durch die Hintertür zu kriminalisieren.
  4. Entfernung des neuen Straftatbestands der öffentlichen Anstiftung: Ein solcher gefährlich vage definierter Straftatbestand könnte dazu genutzt werden, Schutzsuchende oder humanitäre Hilfe zu kriminalisieren und stellt darüber hinaus einen gefährlichen Einschnitt in Presse- und Meinungsfreiheit dar.
  5. Vorangestellte Menschenrechtsfolgenabschätzung: Die Europäische Kommission hat es versäumt, eine menschenrechtliche Folgenabschätzung für die vorgeschlagene Gesetzesänderung durchzuführen. Dies sollte dringend nachgeholt werden, um die nötige Faktengrundlage zur Unterstützung der neuen Rechtsvorschriften zu gewährleisten.

Kriminalisierung von Flucht führt zu mehr Leid und Toten. Irreguläre Grenzübertritte bleiben für viele Menschen alternativlos und sollten nicht kriminalisiert werden. Letztlich sind sichere und legale Fluchtmöglichkeiten der einzige Weg, um die Ausbeutung fliehender Menschen effektiv zu verhindern.³ Der Umgang mit den in Folge des Angriffskriegs aus der Ukraine fliehenden Menschen hat gezeigt, dass das auch praktisch möglich ist. Wir appellieren an Sie, sicherzustellen, dass die neu überarbeitete Richtlinie kein weiterer Schritt in Richtung der Abschaffung von menschenrechtlichen und rechtsstaatlichen Prinzipien wird.

¹ Picum (2024): Cases of criminalisation of migration and solidarity in the EU in 2023, available at: https://picum.org/wp-content/uploads/2024/04/Cases-of-criminalisation-of-migration-and-solidarity-in-the-EU-in-2023.pdf

² Amnesty international (2021): Italy – a slippery slope for human rights: the Iuventa case, available at: https://www.amnesty.de/sites/default/files/2021-08/Amnesty-Statement-Italien-Asyl-Seenotrettung-Iuventa-Kriminalisierung-Anklage-August-2021.pdf

³ Mixed Migration Center (2023): How to break the business model of smugglers, available at: https://mixedmigration.org/how-to-break-the-business-model-of-smugglers/