Dokumentation der AWO-Fachtagung zum Fachkräftemangel in der Kinder- und Jugendhilfe und der Sozialen Arbeit
„Die Arbeit ist doch eigentlich schön! Fachkräfte qualifizieren, gewinnen und binden als strategische Herausforderung“
Unbesetzte Stellen, Fluktuation und eine hohe Arbeitsbelastung: Fachkräfte, die in den Einrichtungen und Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten, sind überlastet und „ausgebrannt“. Aufgrund des Fachkräftemangels kann teilweise nicht mehr allen Anforderungen an Qualität und Betreuungskapazitäten nachgekommen werden. In der AWO Fachveranstaltung, die am 15. Mai 2024 im Bundesverband stattfand, diskutierten wir gemeinsam mit 60 Vertreter*innen aus Einrichtungen, Diensten und Gliederungen der AWO bundesweit sowie mit vielen Kolleg*innen aus Verbänden, Verwaltungen und Gewerkschaften, wie groß die Herausforderungen bei der Gewinnung neuer und der Bindung bisheriger Fachkräfte sind, welche Strategien und Instrumente wir brauchen, um diesen zu begegnen und was wir bereits umsetzen.
Die Dokumentation der Fachtagung u.a. mit Statements, Handlungsempfehlungen und Praxisbeispielen kann unten unter „Downloads“ heruntergeladen werden.
Themen des Fachtags
Prof. Jens Pothmann, Leiter der Abteilung Jugend und Jugendhilfe beim Deutschen Jugendinstitut, stellte den aktuellen und zusätzlichen Fachkräftebedarf bis 2035 vor und betonte die Auswirkungen des Fachkräftemangels auf die Qualität der Arbeit: Fehlende Fachkräfte führen zu zusätzlichen Belastungen und Überforderungssituationen bis hin zu vermehrten Krankheitsausfällen und höherer Fluktuation (vor allem in den Bereichen Kindertagesbetreuung, Allgemeiner Sozialer Dienst in Jugendämtern, Heimerziehung). Die Bewerber*innen-Zahlen in der Kinder- und Jugendhilfe sind rückläufig, deshalb werden Stellen zum Teil mit verschlechterter Passung besetzt und die Anforderungen an Bewerber*innen reduziert. Oft müssen auch Angebote und deren Verfügbarkeit eingeschränkt werden, was die soziale Infrastruktur für junge Menschen und Ihre Familien schmälert.
Es braucht politische Maßnahmen zur Aufwertung sozialer Berufe und für ausbildungsbezogene Strategien. Aber auch die Freien Träger können mit Strategien zur Personalbindung und -gewinnung den Fachkräftemangel entgegentreten, z.B. durch die Gestaltung guter Praxisphasen in Ausbildung und Studium, durch ein gutes Onboarding und eine Willkommenskultur in der Einrichtung sowie durch gute Arbeitsbedingungen (inkl. angemessener Bezahlung). Auch die Entbürokratisierung von Aufgaben und Prozessen und durch Angebote von Supervision, Fortbildung und Coaching sowie Fort- und Weiterbildungsangebote schaffen Anreize, in die Kinder- und Jugendhilfe zu kommen und zu bleiben.
Wir haben jetzt noch die Chance: Wie stark der Fachkräftemangel ausgeprägt sein wird, hängt von den Zeichen ab, die wir jetzt setzen!
Prof. Dr. Rahel Dreyer, Professorin für Pädagogik und Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre an der Alice Salomon Hochschule Berlin, stellte in der Fachtagung aktuelle Erkenntnisse über die Auswirkungen des Fachkräftemangels auf Kinder und Jugendliche in Betreuungseinrichtungen vor. Laut dem Kita-Bericht 2024 des Paritätischen Gesamtverbands können 68 Prozent der befragten Fachkräfte in der derzeitigen Situation nicht ausreichend auf kindliche Bedürfnisse eingehen. Aufgrund des gegenwärtigen Personalschlüssels und auch der räumlich-materiellen Ausstattung gilt dies insbesondere in Einrichtungen in benachteiligten Sozialräumen. Das hat negative Auswirkungen auf das kindliche Wohlbefinden und deren Entwicklung.
Denn nur, wenn sich Kinder sicher und wohlfühlen, können sie sich auf die Bildungsimpulse einer Kita überhaupt einlassen und davon profitieren. Bereits vor der Pandemie zeigten in dem Forschungsprojekt „StimtS“ 20 Prozent der 140 Kinder aus 35 verschiedenen Berliner Kindertageseinrichtungen während der Beobachtungen im Kitaalltag deutliche Anzeichen von Anspannung, Teilnahmslosigkeit und Niedergeschlagenheit oder traten kaum in sozialen Kontakt mit den Fachkräften oder anderen Kindern. Um den Fachkräftemangel anzugehen, sollten Ausbildungskapazitäten erhöht und kindheitspädagogische Studiengänge ausgebaut werden.
Die Arbeitsfelder der Kindertagesbetreuung müssen zudem durch die Weiterentwicklung der Positions- und Entlohnungsgefüge attraktiver gestaltet werden. Darüber hinaus braucht es ein Qualitätsentwicklungsgesetz mit einer kontinuierlichen finanziellen Förderung des Bundes sowie einheitlichen Qualitätsstandards. Wichtig ist ein „Masterplan“ für den Fachkräftemangel für die kommenden 10-15 Jahre, der die Finanzierung und die Rahmenbedingungen klar regelt – zum Beispiel im Rahmen deines Sondervermögens. Hier ist die stärkere Beteiligung des Bundes wie auch der Sozialversicherungen an der Finanzierung des Systems der Kindertagesbetreuung gefragt.
Beim Fachkräftemangel gibt es kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem! Wir brauchen Mut und den politischen Willen, jetzt in gute Strukturen für Kinder und Jugendliche zu investieren – wenn wir nicht alle Kinder so fördern, dass sie einen guten Platz in der Gesellschaft finden können, sind die Folgen für Kinder, Eltern, Gesellschaft und Wirtschaft irreparabel.
Im Workshop zum Thema „Ausbildung und Qualität“ mache Doreen Siebernik, GEW Vorstand für Jugendhilfe und Sozialarbeit, die Bedeutung von einer hohen Qualität der Ausbildung deutlich: Nur durch angemessene Rahmenbedingungen können die angehenden Fachkräfte bestmöglich auf die gestiegenen Anforderungen des Arbeitsfeldes vorbereitet werden. Dafür ist die Ausbildung auf hohem Niveau, also dem DQR-Level 6, beizubehalten. Eine gute Verzahnung von Theorie und Praxis wird zudem als elementarer Baustein angesehen, sowohl um frühzeitig die Praxis kennenzulernen, als auch um theoretisches Wissen und praktische Erfahrungen miteinander zu verknüpfen und Reflexionen anzuregen. Hierfür sind z. B. auch die Kooperationen zwischen Fachschulen (oder auch Hochschulen) und Trägern auszubauen und durch Netzwerke zu stützen. Die Bedeutsamkeit der Arbeit und der Aufgaben der Kindertagesbetreuung sind in der öffentlichen Wahrnehmung zu stärken, um neue Fachkräfte zu gewinnen. Die Zugangsmöglichkeiten müssen geöffnet werden, damit Einstiege für unterschiedliche Personengruppen möglich werden und auch die Vielfalt der Arbeitsfelder, die durch die generalistische Ausbildung ermöglicht werden, sichtbar wird.
Nach einem umfangreichen Input von Uwe Ostendorff, ver.di Gewerkschaftssekretär Sozial- und Erziehungsdienst zur Definition von Mental Health, besorgniserregenden Zahlen zu psychischen Erkrankungen/Burn Out von Fachpersonal in Care-Berufen und einer menschenrechtebasierten Einordnung von psychischer Gesundheit am Arbeitsplatz, diskutierten die Teilnehmer*innen Mental Health als Kernthema von Fachkräftesicherung. Als ein wesentlicher Belastungsfaktor für das psychische Wohlbefinden von Fachkräften konnten die oft ungesicherte Finanzierung sowie befristete Arbeitsverträge herausgestellt werden. Vor dem Hintergrund, dass statistisch vor allem junge Fachkräfte psychisch belastet sind, waren sich die Teilnehmer*innen einig, dass ein gelingender Onboarding-Prozess und eine gute Praxisanleitung deutlich positive Effekte auf die Gesundheit der Fachkräfte haben können. Die Workshop-Teilnehmer*innen stellten heraus, dass es für ein gelingendes Gesundheitsmanagement neben klaren Verantwortlichkeiten insbesondere verlässliche Strukturen und partizipative Prozesse bedarf und betonten, dass bei der Vielfalt der Themen eine Prioritätensetzung unabdingbar ist, um (zusätzliche) Überforderungen aufgrund von Parallelprozessen zu vermeiden.
Maria Lingens vom AWO Landesverband Berlin betonte im Workshop zu Refinanzierung und Zuwendung, dass die Faktoren eine wesentliche Voraussetzung zur Verbesserung der Fachkräftesituation – vor allem in der Kindertagesbetreuung – darin besteht, dass sich öffentliche und freie Akteur*innen auf Landes- und kommunaler Ebene an einen Tisch setzen und gemeinsam nach Lösungen suchen. Eine weitere zentrale Voraussetzung für die Gewinnung und Bindung von Fachkräften besteht in Tarifgerechtigkeit. Die Gewinnung und Bindung von Fachkräften muss einen Schwerpunkt im politischen Handeln bilden. Gegenüber der Politik muss daher immer wieder deutlich gemacht werden, wie wertvoll die Arbeit der Fachkräfte ist und worin der Gewinn einer guten Fachkräftesituation in der Sozialen Arbeit besteht. Wege zu einer auskömmlichen Refinanzierung können beispielsweise in der Umverteilung finanzieller Mittel bestehen, wie sie die AWO immer wieder fordert, aber auch in der Einbindung von Akteur*innen aus der Wirtschaft, die maßgeblich von einer guten Qualität insbesondere der Kindertagesbetreuung profitieren.
Attraktive Arbeitsbedingungen für die Fachkräfte sind zentrale Faktoren, um Mitarbeiter*innen sowohl zu binden als auch zu finden, so betonte es Angela Schweers vom AWO Bezirksverband Potsdam, die den Workshop zum Thema Arbeitsbedingungen gestaltete. Die AWO als Arbeitgeberin bekennt sich zu ihrer Verantwortung, gute Arbeitsbedingungen zu entwickeln. Je höher die Zufriedenheit der Mitarbeiter*innen mit den jeweiligen Arbeitsbedingungen ist, um so beständiger, verlässlicher, also qualitativ höher kann die AWO ihre Aufgaben erfüllen. Qualifizierungsmöglichkeiten, (tarifliche) Bezahlung, Mitbestimmung und/oder Zusatzleistungen sind einige Beispiele, welche auch der Refinanzierung bedürfen. Jede einzelne dieser Maßnahmen ist richtig und wichtig, verschärft aber den Wettbewerb der Träger um das knappe Personal. Mit verbesserten und zufriedenstellenden Arbeitsbedingungen in der Kinder- und Jugendhilfe kann der Kreislauf von Personalfluktuation und Destabilisierung von Trägern und Angeboten durchbrochen werden.
Laura Sajeva und Isabel Lozano von La Red – Vernetzung und Integration e.V. stellten zu Beginn des Workshops die Möglichkeiten und Wege zur Anerkennung ausländischer Abschlüsse im Sozial- und Erziehungsberufen vor. Danach diskutierten die Teilnehmer*innen vor allem über die Hürden, die ihnen dabei begegnen. Viele Menschen, die bereits in Deutschland leben und Abschlüsse im sozialen Bereich aus dem Ausland anerkennen lassen wollen, sind mit erheblichen Hürden konfrontiert: lange Wartezeiten in der Verwaltung, hohe Sprachanforderungen (C1) und geringe Anerkennungsquoten. Freie Träger müssen um jede einzelne Person „kämpfen“, damit diese bei ihnen angestellt werden kann. Oft können sie dann nur zu schlechteren Bedingungen eingestellt werden, als ihre Qualifikation eigentlich hergeben würde. Zudem müssen Personen mit im Ausland erworbenem Abschluss oft durch eine Erzieher*innen-Ausbildung in den sozialen Bereich einsteigen, wenn ihr Abschluss hier nicht anerkannt wird oder einen Anpassungslehrgang besuchen. Viele Personen, die eigentlich qualifiziert wären, gehen dem Arbeitsfeld deshalb verloren, da sie sich einen Job in einem anderen Arbeitsfeld suchen. Die Anerkennung fast aller Sozialen Berufe ist im Landesrecht geregelt – Menschen mit im Ausland erworbenen Abschluss müssen bei einem Umzug das gesamte Verfahren u. U. noch einmal durchlaufen.
Good Practice aus der AWO
Der AWO Ortsverein im Kreisverband Mettmann e. V. betreut vor Ort fast 1.000 Schüler*innen in der sogenannten Halb- und Ganztagsbetreuung an Offenen Ganztagsschulen. Es handelt sich um eine nordrhein-westfälische Lösung zur Schulkinderbetreuung im Primarbereich. Ziel dieser Betreuungsform ist es:
- Ein attraktives, qualitativ hochwertiges und umfassendes örtliches Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsangebot zu schaffen.
- Die individuelle ganzheitliche Bildung von Kindern, die Entwicklung ihrer Persönlichkeit, der Selbst- und Sozialkompetenz, ihrer Fähigkeiten, Talente, Fertigkeiten und ihr Wissen systematisch zu stärken.
Der Schulerlass sieht damit ein neues Verständnis von Bildung und Schule vor. Dafür bedarf es qualifiziertes Personal: Personal mit guter Qualifikation, Personal mit Eignung für Leitungs- und Führungsaufgaben, Personal mit pädagogischen Erfahrungen und Vorstellungen. Wünschenswert sind multiprofessionelle Teams. Deshalb beschäftigt der Betreuungsträger (AWO Ortsverein im Kreisverband Mettmann e.V.) dual studierende Mitarbeitende und wird hierbei durch die Stadt Langenfeld im Rahmen der OGS-Finanzierung unterstützt. Am Beispiel einer Studierenden an der Fliedner-Fachhochschule Düsseldorf wurden die Vorteile aufgezeigt. Drei Aspekte sind hierbei ausschlaggebend:
- Praxisverzahnung
- Gemeinsames „Lernen und Erfahren“ in der OGS und in der FH
- Chance auf Übernahme
Die Absolvent*innen sind nach den Praxiserfahrungen vor Ort ein Gewinn für ein multiprofessionales Team und zur Entwicklung von Führungspersönlichkeiten. Sie bringen somit weitere Kompetenzen ins Team. Das Resümee dieses Best-Practice-Beispiels ist eindeutig: Qualifiziertes Personal macht qualifizierte Arbeit. Dafür steht die Ausbildung an der FH mit Bachelor-Abschluss. Die Erfahrung und Erwartung ist, dass die Arbeit im Sinne bedürftiger Kinder verbessert und intensiviert werden kann, die Gemeinwesenorientierung und Lebensweltorientierung verstärkt wird. Die Ausbildung an der FH bewirkt außerdem, dass individuelle Erziehungskonzepte unter Beteiligung von Schüler*innen, Eltern, Lehrkräften und Erzieher*innen sowie Bachelor-Absolvent*innen von den FH entwickelt werden können. Nicht zuletzt trägt der intensive Austausch der unterschiedlichen Fachleute bei der gemeinsamen Arbeit mit dem Kind zu einem gegenseitigen Kompetenzgewinn bei.
Kontakt
Klaus Kaselofsky, Vorsitzender im Orts- und Kreisverband Mettmann
Tel.: 0176 481 78934, kaselofsky@awo-langenfeld.de
Alexandra Ernst vom AWO Bezirksverband Braunschweig gab Einblicke in das Förderprogramm zum Führungs- und Fachpotential, welches zur Übernahme von Führungspositionen innerhalb der AWO befähigt und empowert. Im Zentrum steht dabei die Führungskräfteentwicklung aus den eigenen Reihen vor Übernahme einer Führungsposition mit dem Ziel, die je individuellen Potentiale zu identifizieren und Führungskompetenzen gezielt zu entwickeln. Inzwischen wurde das Programm ausgeweitet und auch Kolleg*innen, die eine Leitungsposition neu bekleiden, nehmen begleitend zur Einarbeitung an der Führungskräfteentwicklung teil. Denn wir wissen: Eine gute Ausbildung und Einarbeitung ist grundlegend für eine nachhaltige Personalgestaltung. Wenngleich das Programm allen Geschlechtern offen steht, wird dieses mehrheitlich von Frauen genutzt. Vor dem Hintergrund des Ziels, Geschlechtergerechtigkeit auf allen Ebenen der AWO zu erreichen, ist dies besonders zu begrüßen und hervorzuheben.
Kontakt
Christiane Kolberg
Leiterin Geschäftsbereich Personalentwicklung
AWO-Bezirksverband Braunschweig e. V., Marie-Juchacz-Platz 1 | 38108 Braunschweig
Tel.: 0531 / 3908 – 2802, kolberg@awo-bs.de
Alexandra Ernst, Vorsitzende des Unternehmensbetriebsrats
AWO Bezirksverband Braunschweig e. V., Marie-Juchacz-Platz 1 | 38108 Braunschweig
Tel.: 05 31 / 39 08 – 164, ernst@awo-bs.d
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Dokumentation der Fachtagung