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Wer darf sich ehrenamtlich engagieren?

Von: Bernhard Steinke und Jennifer Rotter

 

Ab 2020 sollen Menschen mit Behinderungen, die sich ehrenamtlich engagieren wollen und dafür Assistenz benötigen, zuerst in ihrem privaten Umfeld um unentgeldliche Unterstützung bitten.  

 

Wie kann das sein? Wir haben zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen mit Bernhard Steinke, dem Leiter der Freiwilligendienste des AWO Landesverbands Berlin gesprochen.

Die gesetzlichen Neuregelungen im Bundesteilhabegesetz sehen vor, dass Menschen mit Behinderungen, die sich ehrenamtlich engagieren wollen und dafür Assistenz benötigen, zuerst in ihrem privaten Umfeld um unentgeltliche Unterstützung bitten sollen. Nach „Recht auf Teilhabe“ klingt das nicht unbedingt. Inwiefern entspricht das in Ihren Augen dem inklusiven Anspruch, den sich die Bundesregierung mit dem Gesetzesvorhaben selbst gestellt hat?

Inklusion bedeutet in meinen Augen nicht nur eine gleichwertige Teilhabe von Menschen, sondern auch eine Selbstbestimmung über die eigene Lebensführung. Wenn Menschen mit Assistenzbedarf in die Lage gebracht werden, quasi als Bittsteller*innen um private Unterstützung bitten zu müssen, kann hiervon nur schwerlich die Rede sein, da es von der Zustimmung meiner Freund*innen und Familie abhängt, ob ich mich ehrenamtlich engagieren darf oder nicht. Das heißt auf der anderen Seite auch: Ich muss es mir leisten können, mit einem behinderten Menschen befreundet oder verwandt zu sein, da ich jederzeit damit rechnen muss, für eine benötigte Assistenz in die Pflicht genommen zu werden. Hier sehe ich eher die Gefahr einer weiteren Ausgrenzung als eine verbesserte Inklusion.

Wie ist die Situation in den gesetzlich geregelten Freiwilligendiensten FSJ, FÖJ und BFD – wie inklusiv sind diese bzw. welche Teilhabemöglichkeiten haben Menschen mit Behinderungen in dieser besonderen Form des Engagements?

Das FSJ und der BFD sind eine besondere Form des bürgerschaftlichen Engagements. Die AWO Freiwilligendienste möchten sich inklusiv öffnen. Das heißt nicht, dass wir jetzt sofort oder in Zukunft komplett barrierefrei sind. Aber wir versuchen uns auf unterschiedliche Bedürfnisse einzustellen. Diesen Anspruch in die Tat umzusetzen stellt uns häufig vor konkrete Schwierigkeiten. Mangelnde Finanzierung, ein enger Personalschlüssel, begrenzte Ressourcen und fehlende inklusive Einsatzorte sind exemplarische Herausforderungen. Gerade die fallbezogenen Antrags- und Abrechnungsmodalitäten sind aufwendig und bedürfen zusätzlicher Verwaltungsarbeit. Diese wird jedoch üblicherweise nicht refinanziert. Im Freiwilligendienst sind 25 begleitenden Bildungstage im Jahr vorgeschrieben. Diese werden durch uns, die Arbeiterwohlfahrt, als FSJ/BFD-Träger durchführen. Teilweise handelt es sich dabei um Übernachtungsseminare. Hier bedeuten inklusive Seminargruppen ein stärkeres Mitdenken der unterschiedlichen Bedürfnisse. Kann die Gebärdendolmetscher*in finanziert werden? Ist die schriftliche Einladung zum Seminar verständlich formuliert? Ist die U-Bahn-Station auf der Exkursion rollstuhlgerecht? Das bedeutet einen höheren Aufwand in der Planung, Durchführung und Abrechnung der Seminare. Wir wünschen uns, dass die Rahmenbedingungen entsprechend geändert werden, damit wir Inklusion tatsächlich ermöglichen können.

Bewusst naiv gefragt: Warum müssen die Freiwilligendienste überhaupt inklusiv sein?

Die Freiwilligendienste bieten eine Möglichkeit zur eigenen Orientierung beim zum Übergang zwischen Schule und Beruf. Hiervon profitieren viele junge Menschen. Sei es, dass sie ihren Traumjob kennenlernen oder für sich feststellen, dass sie später doch etwas ganz anderes beruflich machen möchten. Beim aktuellen Fachkräftemängel im sozialen und pflegerische Bereich ist der Freiwilligendienst auch für die Einsatzstellen eine ideale Möglichkeit, künftige Mitarbeitende zu gewinnen. Es besteht weiter die Möglichkeit, den praktischen Teil der Fachhochschulreife durch einen Freiwilligendienst zu erwerben. Die Teilnehmer*innen bilden sich weiter, lernen einen sozialen Umgang miteinander und wachsen mit ihren Aufgaben in den Einsatzstellen. Sie lernen Verantwortung für sich und andere Menschen zu übernehmen und werden selbstständiger bei der Gestaltung ihre eigenes Lebens.

Im Freiwilligendienst ist ein Querschnitt der Gesellschaft aktiv. Warum sollten wir einen Teil davon ausschließen?

Im Freiwilligendienst ist ein Querschnitt der Gesellschaft aktiv. Warum sollten wir einen Teil davon ausschließen? In den inklusiven Seminaren können die Freiwilligen stark voneinander profitieren.

Was muss passieren, um Freiwilligendienste inklusiver zu machen? Welche Visionen und Forderungen gibt es?

Wenn Inklusion nicht nur eine gut klingende gesellschaftspolitische Forderung bleiben soll, dann müssen den Verlautbarungen auch Taten folgen. Das neu Konzept zur Stärkung der Freiwilligendiensten von Frau Ministerin Giffey, das u.a. sechs Millionen Euro für Inklusion in den Freiwilligendiensten im Jahr 2019 vorsieht, ist sicherlich ein guter Anfang, wird aber den angesprochenen Herausforderungen nur zu einem kleinen Teil gerecht. Wir brauchen endlich ein gesellschaftspolitisches Bekenntnis zu Inklusion, das sich an den Leitprinzipien der UN-Behindertenrechtskonvention orientiert.

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