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Rechtsanspruch guter Ganztag – ein beschwerlicher Weg mit einem glücklichen Ende?

Von: Dieter Eckert

 

Jugendhilfe in der Schule - so fing es mit der Ganztagsbetreuung an

 

Pisa – hat es bewirkt! Damit ist nicht die Stadt Pisa in Italien gemeint, die vor allem durch ihren berühmten Schiefen Turm bekannt ist.

PISA meint die Studien der OECD zur internationalen Schulleistungsuntersuchung. Diese werden seit dem Jahr 2000 alle drei Jahre mit dem Ziel durchgeführt, alltags- und berufsrelevante Kenntnisse und Fähigkeiten fünfzehnjähriger Schüler*innen zu messen.

Deren Ergebnisse sorgten Anfang 2000 für ein bildungspolitisches Erdbeben in Deutschland. Sie bescheinigten dem deutschen Schulsystem schwache Leistungen insbesondere in der Sekundarstufe I. Was die Wellen des Erdbebens bis heute spürbar macht: Die Leistungen der Schüler hängen in hohem Maße vom Bildungsstand ihrer Eltern ab. Dieser „Pisa-Schock“ 2001 rüttelte deutlich am Selbstverständnis der deutschen Politiker*innen. In der Folge legte die Bundesregierung das mit 4 Milliarden Euro ausgestattete Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ (2003-2009) auf. Es sollte den bedarfsgerechten Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen in allen 16 Ländern voranbringen.

Die Länder steuerten ihren Finanzierungsanteil zu diesem Gemeinschaftsprojekt dazu. Um auch einen nachhaltigen Einsatz der Investitionsmittel zu gewährleisten, hat das BMBF von 2004 bis 2015 das Begleitprogramm „Ideen für mehr! Ganztägig lernen“ gefördert und fördert weiterhin die Begleitforschung „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen - StEG“. Damit gelang es, Ganztagsschulen in der deutschen Bildungslandschaft zu verankern. Sie gelten fortan als Hoffnungsträger für eine moderne Bildung und bedarfsgerechte Ganztagsbetreuung.

Durch diese Entwicklung sah sich die Kinder- und Jugendhilfe gefordert, ihre Position zum Bildungsverständnis von Schule neu zu definieren. 2002 machten die Leipziger Thesen Bildung ist mehr als Schule“ Schlagzeile. Markante Überschriften wie „Bildung ist mehr als Schule“, „Das deutsche Bildungssystem verstärkt soziale Ungleichheit“, „Selektion behindert Bildung“,  „Kinder- und Jugendhilfe eröffnet ein breites Bildungsangebot“ oder „Ganztagsangebote als Bildungsoffensive“ zeichnen den Weg einer offensiv denkenden und zur aktiven Zusammenarbeit mit Schule bereitstehenden Jugendhilfe.

Dieses neue Verständnis sowie die neue Aufmerksamkeit für die Kinder- und Jugendhilfe, wurden gezielt fortgesetzt durch den 12. Kinder- und Jugendbericht 2005. Er trägt den Titel „ein Bericht über die Bildung, Betreuung und Erziehung vor und neben der Schule“. Wichtig für das Verständnis von Jugendhilfe im Kontext von Schule war die hier erstmals vorgenommene Unterscheidung des Bildungsverständnisses in drei Prozesse: formale, non-formale und informelle Bildung. Die Jugendhilfe sah sich gefordert sich als professionelle Akteurin für non-formale Bildungssettings an Schulen zu profilieren.

Mit diesen Positionierungen und den bildungspolitischen Aktivitäten hatten die freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe Wind im Rücken, um sich in der Betreuung von Schulkindern an Schulen zu engagieren. Viele freie Jugendhilfeträger begrüßten die Ganztagsbetreuung als ein wichtiges neues Jugendhilfeangebot. DieAngebote für Vorschulkinder aus der U3-Betreuung und der Kindertagesbetreuung sollten durch Betreuungsangebote für Schulkinder sinnvoll ergänzt werden.

Der Bundestagswahlkampf 2017 bringt den Durchbruch

Ein Blick in die Wahlprogramme 2017 bis 2021 der Parteien zeigt, dass CDU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen die Einführung eines Rechtsanspruchs auf Betreuung im Grundschulalter und den weiteren Ausbau der Qualität von Bildung und Betreuung forderten. Eine vom BMFSFJ in Auftrag gegebene Rechtsexpertise von Prof. Johannes Münder „Bedarfsdeckende Förderung und Betreuung für Grundschulkinder durch Schaffung eines Rechtsanspruchs“ (2017, Kurzfassung) liefert erste Vorschläge für die gesetzliche Ausgestaltung eines solchen Rechtsanspruchs.

Weitere Studien und Empfehlungen beispielsweise von Stiftungen (etwa die EmpfehlungMehr Schule wagen – Empfehlungen für guten Ganztag“  oder die StudieGute Ganztagsschule für alle“), der Prognos Chartbook „Gute und verlässliche Ganztagsangebote für Grundschulkinder“ oder der AWO (Positionspapiere „Der AWO geht es um mehr! Gute Förderung junger Menschen bedarf bester Ressourcen!“   sowie „Gute Orte für Kinder – Anforderungen und Herausforderungen für eine gelingende Bildung von Schulkindern“) flankieren in dieser Zeit fachwissenschaftlich und verbandsstrategisch die politischen Entwicklungen. Diese Veröffentlichungen fokussieren auf die fachlichen Standards, stellen den Ist-Stand der Ganztagsbetreuung dar, definieren Fortschrittsziele bzw. legen einen Kostenrahmen für einen qualitativ anspruchsvollen Ausbau der Ganztagsschulen und der Ganztagsbetreuungsangebote vor.

Am 07. Februar 2018 war es dann soweit

Die neue Bundesregierung verspricht in ihrem Koalitionsvertrag die Schaffung eines Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter. Die weitere Entwicklung der Umsetzung lässt sich in den beiliegenden Fact Sheets zum Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter verfolgen (siehe Downloadbox unten).

Grundlage für einen geregelten Rechtsanspruch ist die feste Überzeugung der freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe: Die institutionelle Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder muss mit einem qualitativ attraktivem Angebot einhergehen! Hierbei sind alle Angebote den Interessen der Kinder verpflichtet!

Qualität ist deshalb so wichtig, damit die Schüler*innen die Angebote auch für ihre sozial-emotionale Entwicklung nutzen können.Dies sind Angebote, die die Kinder aktiv in die  Planung mit einbeziehen, eine sinnvolle Zeitstrukturierung ermöglichen, Reflexionsprozesse anstoßen, Prozesse des Selbstständig Werdens unterstützen und am Lebensalltag der Kinder anknüpfen. Und: eine gestärkte Persönlichkeit begünstigt die gesellschaftliche Teilhabe!

Ein solcher qualitativer Anspruch lässt sich nur sichern, wenn die Angebote der Ganztagsbetreuung auf der Basis einer jugendhilferechtlichen Regelung stehen. Dies kann der Bundesgesetzgeber für die Angebote der Jugendhilfeträger im SGB VIII allgemein regeln. Allerdings besitzt der Bund nicht die Kompetenz, analoge Regelungen für Betreuungsangebote in Trägerschaft der Schule zu erlassen. Hier gilt die Hoffnung, dass alle beteiligten föderalen Ebenen und deren Institutionen den Mehrwert einer guten Ganztagsbetreuung erkennen und Regelungen für eine verlässliche und an der Qualität orientierte Umsetzung vereinbaren. Letztendlich werden Kinder und Eltern selbst entscheiden, welche Angebote von ihnen als attraktiv angesehen werden.

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